„In uns leben zwei Wölfe […] Der eine davon ist der liebe, der nette Wolf […] Der für seine Wolfsjungen auf die Jagd geht und der sein Rudel verteidigt. Und der andere […] ist der dunkle Wolf, der böse, der grausame […]. Sie kämpfen gegeneinander, […] denn jeder will die Macht über unsere Seelen bekommen“
– Clara Asper (Folge 2, min. 8:30-9:10)
Curon ist eine 2020 exklusiv für Netflix produzierte Mystery- und Horror-Serie von Giovanni Galassi, Ivano Fachin und Tommaso Matano (Drehbuch), die aus insgesamt sieben jeweils 41-51 Episoden besteht. Titelgebender Handlungsort ist das in Südtirol gelegene Dorf Graun im Vinschgau, italienisch: Curon, das für seinen aus dem Reschensee ragenden Kirchturm der alten Pfarrkirche St. Katharina über die regionalen Grenzen hinaus bekannt ist. Das ikonische Panorama entstand im Zuge der Flutung der ursprünglichen Gemeinde zur Errichtung eines künstlichen Stausees für die lokale Stromversorgung. Seither ranken sich allerlei finstere Legenden um diese Landschaft, auf denen die Serie ihre Handlung aufbaut.
Curon entfaltet eine vielschichtige Erzählung, die von Serialität in einem doppelten Sinne durchzogen ist: als formales Prinzip der Streaming-Serie selbst und als inhaltliches Motiv der Verdopplung. Dieses wird bereits in der stilprägenden Titelkarte deutlich, in der das „o“ des Ortsnamens zweifach zu sehen ist, als würden die Kreise einen doppelten Tropfen beschreiben, der auf die Oberfläche des Sees fällt. Die unheimlich aus dem Wasser emporsteigende Kirchturmspitze stellt ihrerseits ein allgegenwärtiges Symbol für das Versunkene, Vergangene, Unbewältigte dar, das den Kern der Handlung ausmacht.
Bereits die erste Episode etabliert die zentralen Strukturen von Curon: Zwillinge, Doppelgänger, Spiegelbilder, familiäre Wiederholungen: Anna Raina kehrt mit ihren Kindern Mauro und Daria ins Dorf zurück, aus dem sie vor 17 Jahren nach einem mysteriösen Mordfall an ihrer Mutter geflohen ist und wo sie nun alles andere als herzlich empfangen wird. Gerüchte, Religion (Serien von Kruzifixen in der Wohnung der Aspers, zwei Madonnen bei der nächtlichen Prozession) und Aberglaube (Wolfslegenden, Scheibenschlagen-Fest zur Austreibung böser Mächte zum Winter) bilden in Curon ein dichtes Geflecht aus Geheimnissen. Der allgegenwärtige See samt seinem versunkenen Dorf fungiert als kollektives Gedächtnis, in dem sich Traumata sedimentiert haben – und aus dem das Verdrängte buchstäblich – in Gestalt von äußerlich identischen, innerlich aber ‚bösen‘ Doppelgängern – wiederauftaucht.
Annas Vater Thomas klärt die beiden Enkel schließlich über den Doppelgänger-Fluch von Curon auf: „Jeder von uns hat ein zweites Ich. Der eine Teil davon ist verborgen, der andere sichtbar. Der eine Teil ist gut, der andere aber ist böse. Sie wechseln sich ab, normalerweise kommen sie sich kaum in die Quere. Versucht jedoch der eine den anderen zu zerstören, bricht für den Betroffenen alles zusammen. Zuerst hat man sehr starke Kopfschmerzen, danach hört man die Glocken von Curon läuten, doch das findet nur in deinem Kopf statt. […] Aus dem See steigt plötzlich der Teil von dir, den du nicht wahrhaben willst, deine schlechte Seite. Eine Art Doppelgänger. Und der sucht dann nach dir, um dich zu töten. Weil er dann das Leben führen kann, das du bisher nicht zugelassen hast“ (Thomas Raina, Folge 5, min. 34:23–35:18).
Curon erzählt von der Unmöglichkeit, die eigene Dunkelheit abzuschütteln. Die Serialität der Erzählung wird zur Metapher für den inneren Kampf, den der ‚Wolf‘, wie Clara Asper sagt, in uns austrägt – der helle und der dunkle. Am Ende bleibt alles im zyklischen Kreis: Die Schatten kehren zurück, der See ruht nie und die Serie selbst schließt sich, wie eine Reihe von Spiegeln, in sich selbst. Dabei klärt Curon nicht explizit auf, aus welchem Grund der Fluch über den Ort gekommen ist – dieser Umstand ist zugleich Grundlage für das Mysterium wie auch die größte Schwäche der Serie. Horrorfans werden dennoch auf ihre Kosten kommen.
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